Gerhard Tersteegen in der Gegenwart des ewigen Gottes

Selten hat ein Christ so eigenartig sein Leben gestaltet wie Gerhard Tersteegen. Ohne danach zu fragen, wie lächerlich er damit in den Augen der Menschen erscheinen könnte, ging er konsequent und geradlinig seinen Weg. Er machte es seinen Gegnern leicht, ihn zu verspotten und als Sonderling abzustempeln.

Genau darin aber liegt Gerhard Tersteegens große Ausstrahlung und Wirkung auf unzählige Menschen bis heute. Sein Leben war aus einem Guss. Er hatte sich Jesus Christus völlig ausgeliefert und sich ihm hingegeben. In seiner Nachfolge fand er die lohnende Lebensmitte, ganze Sicherheit und volle Erfüllung. Mit dieser Gotteserkenntnis prägte und beeinflusste er sehr viele Menschen tief.

Dabei begann Tersteegens Leben nicht außergewöhnlich. Am 25. November 1697 wurde er in Moers am Niederrhein als achtes Kind in einer frommen Kaufmannsfamilie geboren. Kurz bevor er mit sechs Jahren in die Lateinschule aufgenommen wurde, starb sein Vater. Der begabte Junge, der neben Französisch und Holländisch auch rasch Latein, Griechisch und Hebräisch lernte, verfasste lateinische Verse, die bei einer öffentlichen Schulveranstaltung mit großem Beifall aufgenommen wurden. Alle waren sich sicher, dass dieses Kind unbedingt zum Studium auf die Universität müsste. Aber seine Mutter, die arme Witwe, konnte die Mittel dafür nicht aufbringen. So entschied sie: Er soll Kaufmann werden - wie der Vater.

Als Lehrling siedelte Testeegen zu seinem Schwager nach Mühlheim an der Ruhr über. Dieser Ort sollte ihm fortan zur Heimat werden, auch wenn ihm die vier Jahre der Ausbildung zum Kaufmann unsagbar schwer fielen. Nebenher suchte er die Gemeinschaft mit wirklich gläubigen Menschen. Er brauchte Beistand, weil er sein Leben bis in die Tiefe seiner Sinne zu ändern versuchte. Deshalb las und betete er viel und anhaltend, oft die ganze Nacht hindurch. Kein Wunder, dass sein Lehrherr dafür wenig Verständnis hatte und ihn mit allerhand Aufträgen und sinnlosen Arbeiten von seinen Büchern abbringen wollte. Aber auch seine eigentlich christlich gesinnte Familie konnte ihn nicht mehr verstehen und wandte sich von ihm ab. Er wurde nicht einmal eingeladen, als das Erbe der Mutter verteilt werden musste. Zum Ärger seiner Verwandtschaft gab er seinen Anteil sofort an die Armen weiter.

Tersteegen hielt aber die Lehrjahre durch und eröffnete mit 20 Jahren einen eigenen Krämerladen. Er verkaufte Gemüse und Heringe. Die Geschäfte gingen aber schlecht. Es war nicht zu übersehen, dass Tersteegen für den Kaufmannsberuf nicht geschaffen und begabt war.

Endlich konnte Gerhard Tersteegen nun sein Leben neu gestalten. Er tat es mit dem ihm typischen Zug seines Wesens. Er suchte ganz die Stille und Einsamkeit, weil ihn die betriebsamen Geschäfte unerträglich unter Druck setzten. Er versuchte es erst mit der Leinenweberei, aber auch das war für seinen kranken Körper zuviel. So kaufte er sich eine Maschine und betrieb ganz allein in der Stille das Handwerk der textilen Bandwirkerei.

Die einzigen, mit denen Tersteegen Gemeinschaft pflegte, waren seine Glaubensbrüder. Diese fest im biblischen Wort verwurzelten Christen waren wegen ihrer konsequenten Nachfolge Jesu von den damaligen Kirchen abgelehnt und ausgestoßen wurden. Sie lebten in einer sehr direkten, tiefen und innigen Glaubensbeziehung mit Jesus Christus. So verbrachte Gerhard Tersteegen die nächsten fünf Jahre in fast völliger Abgeschiedenheit und Stille. Von fünf Uhr in der Frühe bis 9 Uhr am Abend wirkte er seine seidenen Bänder. Davon musste er schließlich leben. Schon von Jugend an schwer leidend, wurde er auch jetzt von Krankheiten geplagt. Manchmal lag er bis zu 12 Wochen hilflos im Bett, ohne dass jemand nach ihm schaute. Er meinte in seiner bescheidenen Art, so müsse er es eben ertragen. Schließlich wollte er auch ganz bedürfnislos werden. Darum verzichtete er zeitlebens auf die Ehe. In allem suchte er der Armut Jesu gleich zu werden. Nur einmal am Tag aß er eine einfache Mehlsuppe und verzichtete konsequent auf Kaffee und Tee. Aus Bescheidenheit ließ er sich in seinem ganzen Leben nie porträtieren. So gibt es von Gerhard Tersteegen überhaupt kein Bild.

In diesen Jahren tobte ein schwerer geistlicher Kampf im Herzen Tersteegens. Man hat ihn oft als Mystiker bezeichnet. Mit diesem Begriff wird aber genau das verdeckt, was Tersteegen wichtig war. Voller Erschrecken misstraute er seinem eigenen bösen Herzen. Ihm ging es gerade nicht um mystische Selbsterlösung durch tiefsinnige Versenkung in das eigene Ich. Nach allem Ringen fand er Frieden, nicht in der völligen Abkehr und mystischen Verneinung der Welt, sondern in der neu entdeckten, befreienden und versöhnenden Gnade Jesu.
Es war am Abend des Gründonnerstags im Jahr 1724, als der 26-jährige Gerhard Tersteegen mit seinem eigenen Blut folgende Erklärung niederschrieb:

Meinem Jesus! Ich verschreibe mich dir, meinem einzigen Heiland und Bräutigam Jesus Christus, zu deinem völligen und ewigen Eigentum. Er sagte sich gleichzeitig los von allem Recht und aller Macht Satans. Er erinnerte an den Todeskampf Jesu an diesem Gründonnerstag. Durch seinen Todeskampf, Ringen und Blutschwitzen im Garten Gethsemane sei er zum Eigentum erkauft, die Pforten der Hölle zersprengt und das liebevolle Herz des ewigen Vaters ihm geöffnet worden. Von diesem Abend an sei dir mein Herz und meine ganze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank ergeben und aufgeopfert von nun an bis in Ewigkeit; nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Befehle, herrsche, regiere in mir! Ich gebe dir Vollmacht über mich und verspreche, mit deiner Hilfe und Beistand eher dieses mein Blut bis auf den letzten Tropfen vergießen zu lassen, als mit deinem Willen und Wissen in - oder auswendig dir untreu oder ungehorsam zu werden. Siehe, da hast du mich ganz, süßer Seelenfreund, in keuscher, jungfräulicher Liebe dir stets anzuhangen. Dein Geist weiche nicht von mir, und dein Todeskampf unterstütze mich! Ja, Amen!

Dein Geist versiegle es, was in Einfalt geschrieben dein unwürdiges Eigentum Gerhard Tersteegen.
Nicht sein frommes Ich, sondern die versöhnende Gnade Gottes in Jesus Christus wurde ihm so überzeugend groß. Sein geängstigtes Herz wurde ruhig und fand Frieden. Er erlebte in der Tiefe seines Herzens, wie die Liebe des ewigen und lebendigen Gottes ihn berief und bekehrte. Nicht in sich suchte er Erlösung, sondern im Blut Jesu Christi fand er die Gnade, die auch ihn allein aus aller Verkehrtheit der Sünde befreite. Immer wieder betonte er zeitlebens das Unvermögen des gefallenen Menschen, sich selbst wieder aufzurichten. Dieses nüchterne Reden von der Macht der Sünde und das Wissen um die böse Art seines Wesens bewahrte Tersteegen vor aller Schwärmerei.
Voll Anbetung dichtete er das Lied, das vielleicht am besten seine neue Glaubenserkenntnis ausdrückt:


Wie bist du mir so innig gut,
mein Hohepriester du!
Wie teur und kräftig ist dein Blut!
Es bringt mich stets zur Ruh.

Wenn mein Gewissen zagen will
vor meiner Sündenschuld,
so macht dein Blut mich wieder still,
setzt mich bei Gott in Huld.

Es gibet dem bedrückten Sinn
Freimütigkeit zu dir,
dass ich in dir zufrieden bin,
wie arm ich bin in mir.

Umsonst will ich auch lieben dich,
mein Gott, mein Trost, mein Teil,
ich will nicht denken mehr an mich,
in dir ist all mein Heil.


Natürlich änderte Gerhard Tersteegen jetzt seinen Lebensstil. Er nahm einen Glaubensbruder als Zimmergenossen bei sich auf. Nach dem Bandwirken benützte er die Abendstunden zur Schriftstellerei. Er schrieb einen Katechismus für Kinder, den Unparteiischen Abriss christlicher Grundwahrheiten. Selbst mit der freisinnigen Religionsphilosophie des preußischen Königs, dem alten Fritz, setzte er sich mit der Schrift Gedanken über die Werke des Weltweisen zu Sanssouci mutig und ohne jede Polemik auseinander. Als der preußische König ihn voll Anerkennung zum Gespräch bat, schlug Tersteegen die Einladung aus. Das Gespräch hätte auch nur die klaren Gegensätze verwischen können.
Mit seiner enormen Sprachbegabung übersetzte Tersteegen auch die fast ganz vergessenen Erkenntnisse und Wahrheiten der Gotteszeugen wie Madame de la Mothe Guyon, Jean de Labadie, die spanischen Karmeliter Theresa von Jesus und Johannes vom Kreuz. Darunter war auch Das verborgene Leben mit Christus in Gott des Katholiken Johann von Bernières Louvigny. Auch das Buch des mittelalterlichen Thomas vom Kempen von der Nachfolge Christi brachte Tersteegen neu heraus. Was ihn dabei so sehr anzog, war das gründliche Absterben des alten Menschen. Ihm war der Gedanke so wichtig, dass die kurzen Tage unseres Lebens darin ihren Sinn haben, frei von der Sünde, von rasch vergehender Lust, Jesus nachzufolgen. Er bringt uns durch diese Wüste heim in sein ewiges Vaterland.
So schließt Tersteegens Abendlied Nun sich der Tag geendet:


Ich schließe mich aufs neue
in deine Vatertreue
und Schutz und Herze ein;
der Finsternis Geschäfte
und alle bösen Kräfte
vertreibe durch dein Nahesein.

Dass du mich stets umgibest,
dass du mich herzlich liebest
und rufst zu dir hinein,
dass du vergnügst alleine
so wesentlich, so reine,
lass früh und spät mir wichtig sein.

Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit.


1740 veröffentlichte Tersteegen das Ermunterungslied für Pilger: Kommt, Kinder, lasst uns gehen. Auch für uns weltverhaftete Leute heute macht dieses Lied herausfordernd deutlich, dass wir in unserem Leben Fremdlinge und Pilger sind:


Man muss wie Pilger wandeln,
frei, bloß und wahrlich leer;
viel sammeln, halten, handeln
macht unsern Gang nur schwer.
Wer will, der trag sich tot;
wir reisen abgeschieden,
mit wenigem zufrieden;
wir brauchen’s nur zur Not.

Drauf wollen wir’s denn wagen,
es ist wohl wagenswert,
und gründlich dem absagen,
was aufhält und beschwert.
Welt, du bist uns zu klein;
wir gehn durch Jesu Leiten
hin in die Ewigkeiten:
es soll nur Jesus sein.


Alle Befriedigung liegt allein in Gott. Nichts sonst kann das dürstende und hungernde Herz befriedigen:

Allgenugsam Wesen,
das ich hab erlesen
mir zum höchsten Gut,
du vergnügst alleine
völlig, innig, reine
Seele, Geist und Mut.
Wer dich hat, ist still und satt;
wer dir kann im Geist anhangen,
darf nichts mehr verlangen.

Was genannt mag werden
droben und auf Erden,
alles reicht nicht zu.
Einer kann mir geben
Freude, Ruh und Leben;
Eins ist not: nur du!
Hab ich dich nur wesentlich,
so mag Lieb und Seel verschmachten,
ich will’s doch nicht achten.


Zwanzig Jahre lang arbeitete Tersteegen am Leben heiliger Seelen, einem dreibändigen Werk mit 25 Lebensbildern, lauter katholische, mönchische, einsiedlerische, quietistische Ordensleute, wie ihm von seinen Kritikern vorgeworfen wurde. Über alle Konfessionsgrenzen hinweg interessierte ihn das Leben der wirklich Gläubigen mit Gott. Er nannte es verborgen, weil die natürliche Vernunft des Menschen es nicht erkennt, obgleich es doch ganz real ist. Vielleicht seine wichtigste Schrift war das Geistliche Blumengärtlein inniger Seelen mit kurzen Reimen und Liedern zur Erweckung, Stärkung und Erquickung in dem verborgenen Leben mit Christus in Gott. Die Melodie aus einer russischen Messe von Demetrius Bortniansky machte mit ihrer slawischen Weichheit das Anbetungslied Tersteegens weit bekannt:


Ich bete an die Macht der Liebe,
die sich in Jesus offenbart.
Ich geb mich hin dem freien Triebe,
wodurch ich Wurm geliebet ward.
Ich will, anstatt an mich zu denken,
ins Meer der Liebe mich versenken.

O Jesu, dass dein Name bliebe
im Grunde tief gedrücket ein!
Möcht deine süße Jesusliebe
in Herz und Sinn gepräget sein!
Im Wort, im Werk und allem Wesen
sei Jesus und sonst nichts zu lesen!


Oder mit jubelnder Weihnachtsfreude, ganz bewusst zu Joachim Neanders strahlender Freudenmelodie Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren gedichtet:


Jauchzet, ihr Himmel,
frohlocket, ihr Engel, in Chören,
singet dem Herren,
dem Heiland der Menschen, zu Ehren!
Sehet doch da:
Gott will so freundlich und nah
zu den Verlornen sich kehren.


Das besondere Kennzeichen des 30-jährigen Gerhard Tersteegen war jetzt die Gemeinschaft. Man fand ihn, den Mann der Stille und Einsamkeit, nun meist am Sonntagnachmittag in Bauernhäusern der Umgebung Mühlheims, im Bergischen Land und im niederrheinischen Land um Cleve herum. In den vielen Hausversammlungen traf viele Zuhörer das schlichte Wort und die innerlich bezwingende Kraft des Redens Tersteegens. Viele bekehrten sich umfassend und auf Dauer. Im Bergischen Land bei Heiligenhaus an der Straße nach Velbert entstand 1727 die Pilgerhütte. Eine Bruderschaft junger Männer zog hier ein, die miteinander christliches Leben verwirklichen wollten. Aber auch in Wuppertal, Krefeld, Amsterdam, Frankfurt/Main, im Siegerland, in der Wetterau, in Franken und der Pfalz sammelten sich Freunde, die sich zu Tersteegen hingezogen fühlten, seine Seelsorge suchten und sein geistliches Wort hören wollten. Seine umfangreiche und seelsorgerliche Korrespondenz geht bis Dänemark, Schweden und ins amerikanische Pennsylvania. Wie wichtig ihm die Gemeinschaft mit gläubigen Menschen war, zeigt die Strophe:


Ich umfasse, die dir dienen;
ich vereinge mich mit ihnen,
und vor deinem Angesicht
wünsch ich Zion tausend Segen;
stärke sie in deinen Wegen,
leite sie in deinem Licht.


Doch mit der verfassten Kirche kam es zum Zusammenstoß. 1740 erließ die kurpfälzische Regierung, vermutlich auf Betreiben der Kirche, ein Verbot der Hausversammlungen. Der preußische König Friedrich II. schloss sich für seine rheinischen Gebiete an. Auch jetzt erbitterte sich Tersteegen nicht. Einen der zuständigen Beamten erinnerte Tersteegen daran, dass er dieses Verbot einst auf seinem Totenbett noch werde verantworten müsse. Jede öffentliche Veranstaltung von Gauklern und Seiltänzern, ja auch Saufgelage würden erlaubt, gute Versammlungen dagegen verboten. Tersteegen wohnte 20 Jahre lang in Mühlheim direkt gegenüber der Petrikirche, aber betreten hat er sie in der ganzen Zeit nie. Er sah in der verweltlichten evangelischen Kirche eine wirkungslose Erb-Religion, ein gedankenloses Namens-Christentum. Er wollte keinen Kampf, weil die eigentliche Scheidung ganz anders verläuft: Ich glaube, dass in den Augen Gottes nur zwei Parteien auf Erden seien, nämlich die Kinder der Welt, in welchen die Weltliebe herrscht, und dann die Kinder Gottes, in welche die Liebe Gottes ausgegossen ist durch den Heiligen Geist. Nur auf diesen einen Unterschied schaue Gott.
Dabei hatte Tersteegen den klaren Durchblick, dass in allen Konfessionen die meisten Prediger und Zuhörer zu der Partei der Welt und des Antichristen gehörten, auch wenn im Verborgenen Gott immer noch seine Leute hat. Tersteegen fällte dies Urteil nicht überheblich und stolz, sondern im Wissen um die Macht der Sünde und die Verlorenheit des Menschen.
Deshalb wollte sich Tersteegen weder an eine Konfession binden, noch sich sektiererisch von ihr abspalten lassen. Die ganze konfessionelle Frage trat bei ihm zurück gegenüber dem völligen Gehorsam in der Nachfolge Jesu. Selbst die reine Lehre kann kein gottseliges Leben garantieren, weil der wahre Glaube nicht an irgendwelche Konfessionen, aber auch niemals an eine sich abspaltende Splittergruppe gebunden ist.
Tersteegen war bereit, sich an Gottesdiensten zu beteiligen, wenn der Prediger meinen Glauben weder ermüdet noch ärgert. Bei heftigen und polemischen Angriffen riet Tersteegen einfach zum geduldigen Ausharren. Er erkannte richtig: Das Lästern widriggesinnter Prediger macht keine Wunden, man beantwortet’s mit Stillschweigen und sieht nicht danach um. Viel wichtiger sei, dass man selbst gemäß dem Evangelium richtig wandle. Dann mögen auch die, so jetzt von uns afterreden als von den Übeltätern, noch wohl dem Herrn gewonnen werden, wenn sie unsere guten Werke sehen und nicht nur gute Worte hören. Lasst uns die Gnadenkräfte nicht verschwenden in Nebensachen, in Äußerlichkeiten, in neuen Meinungen und Parteilichkeiten, da man am Ende konfus, zerstreut und matt sitzen bleibt. Die Welt beschäftigt sich mit ihren Sachen, lasst sie machen. Wir sollen uns nur beschäftigen mit unserer Sache, die den ganzen Menschen dergestalt erfordert, dass man nicht Zeit zum Umsehen hat.
Tersteegen suchte keine vollkommene Gemeinde zu organisieren, sondern freute sich an der erlebten Gemeinschaft mit Menschen, die Gott lieben. Dies war der Tempel, der Ort der Gegenwart Gottes.
1750, nach zehn Jahren, nahm ein Freund Tersteegens, der Theologiestudent Jakob Chevalier, die öffentlichen Versammlungen am Niederrhein wieder auf. Auch Tersteegen hielt wieder stark besuchte Versammlungen in seinem Haus. Seine Freunde vertrauten ihm große Summen Geld an. In der Nacht verteilte er alles unter den Armen. Er selbst lebte in ärmlichsten Verhältnissen. Neben allen anderen Tätigkeiten betrieb er, der selbst so viel krank war, die Nebenarbeit, einfache Medikamente zu verfertigen. Er meinte, die Medizin gibt viel zum Nachdenken, viel Verdruss und viel Verantwortung. Ich brauche nur ein paar Sorten Pillen, einige Pulver und Essenzen, alle von einfacher Komposition. Außerordentliche, geheime und chemische, ungewisse Seltenheiten macht Gott zuschanden und segnet verachtete Kräutlein. Traue den Laboratorienbüchern nicht und forsche nicht täglich in alchimistischen Irrgärten. Am 3. April 1769 rief ihn der Herr nach längerer Krankheit und Leidenszeit heim in seinen Frieden.


Auszug aus dem Buch: "Den Kummer sich vom Herzen singen" von Winrich und Beate Scheffbuch mit freundlicher Genehmigung der Autoren (Bemerkung der Herausgeber)